Selbsterfahrung einer Nicht-Zockerin

Spielen ist ein gesellschaftliches Thema, das auch seinen Platz in der Medienpädagogik hat. Wie kann ich das Thema pädagogisch behandeln, wenn ich selbst kaum bis wenig zocke, keine Spielentwicklerin bin und nur wenig Ahnung davon habe, warum Menschen denn überhaupt vor Bildschirmen hängen und spielen? Selbstversuche und Reflexion über eigene Spielerfahrungen sind Annäherungen an das Thema Gaming und natürlich auch eine pädagogische Methode.

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Ich bin unter Wasser im Farbenmeer. Schwerelos. Fische aller Arten, Meeresschildkröten, Haie. Ein Orca schwimmt an mir vorbei, ich gleite auf ihn zu, halte mich an seiner Rückenflosse fest, er beschleunigt, immer schneller geleitet er mit fließenden Bewegungen durch die Unterwasserwelt. Vorbei an den Ruinen einer untergegangenen Stadt, vorbei an den Ketten, die ich in Gang bringen muss. Ein, zwei, drei kräftige Schläge mit der Schwanzflosse, plötzlich schießt der Orca los Richtung Wasseroberfläche! Mit aller Kraft versuche ich mich zu halten, halte den Atem an, immer schneller, das Wasser wird heller, gleich, gleich, GLEICH, JETZT! Wir schießen aus dem Wasser heraus, springen in Zeitlupe über die Wellen, der magische Bruchteil einer Sekunde, schwebend über den Ozean… kopfüber tauchen wir ein…

… und ich befinde mich in der Abendsonne der Wüste. Ich gleite wie auf Skiern über die Dünen, die Abendsonne lässt den Sand rosiggolden glitzern. Ich gleite, ich fliege, ich springe… diese Musik, oh diese Musik! Ich könnte für immer durch die Dünen surfen, doch ich habe noch etwas zu erledigen, ich muss meinen Teil beitragen, doch diese Musik … ich schließe die Augen…

… und befinde mich plötzlich im Dunkeln. Höre nur meinen Atem. Er klingt gepresst, als wäre ich gerannt, als wäre ich auf der Flucht. Alles Dunkel, ich kann nichts sehen. Ein plötzliches Geräusch lässt mich zusammenfahren. Ich bekomme Panik. Was ist das in meiner Hand? Ich schüttle es. Licht geht an. Eine Taschenlampe! Flackerndes Licht. Wo bin ich? Wer bin ich? Was ist passiert? Überall Blut, dunkle Gänge, Ubahnschacht? Flackern der Taschenlampe, sie erlischt. Batterien! Ich brauche Batterien! Ich irre durch die Dunkelheit, ein Schritt, zwei Schritte, plötzlich packt mich etwas von der Seite, ich schreie…

… und bin auf einmal in Angriffsstellung im Wald von Ferelden. Meine Crew und ich werden von Wölfen angegriffen! Alistor schießt schon los in seiner schweren Rüstung, mit seinem Schild basht er dem Wolf voll in die Fresse! Morrigan neben mir holt tief Luft und mit einer eleganten Bewegung ihrer Hände schickt sie einen Schwall Blitze gegen das Wolfsrudel. Leliana lässt Feuerpfeile regnen. AAAAAAH! Ich werde von einem Feuerstoß getroffen. DÄMONEN! Mühsam rapple ich mich auf, zücke meinen Zauberstab, als plötzlich…

… mein Kopf von einem pixeligen Schwert durchbohrt wird. Ich zerfalle in eine Blutlache aus gelben Pixeln. Überhaupt besteht alles nur aus orangenen, gelben und schwarzen Pixeln. Schnell! SCHNELL! Mein Feind ist schon weiter! Ich erscheine auf dem Bildschirm, ein Schwert in der Hand, werfe es… HA! Getroffen! Jetzt aber schnell! Ans andere Ende des Bildschirms, schnell, SCHNELL! AAAH! Er erscheint! HA! Nicht getroffen, weiter, WEITER! Aaaaah schneeeeeell, aaaaah!!! Da ist er wieder, er wirft sein Schwert, neeeeeiiiiin,…

… „Los Shiggy!“ rufe ich und werfe den Pokéball. Shiggy erscheint. „Shiggy: Aquaknarre!“, befehle ich. Das wilde Ponita wird getroffen, Lebenspunkte schwinden, es taumelt. „Das dürfte genügen!“, sage ich, krame nach einen Pokéball, werfe ihn. Er öffnet sich, saugt das wilde Ponita ein, fällt zu Boden, wackelt, einmal, zweimal, dreimal… Düdlüdüüü! GLÜCKWUNSCH! Du hast das Pokémon gefangen!

Mit einem breiten Grinsen speichere ich und schalte meinen Gameboy Color mit Gelber Edition aus.

Selbstreflexion

Ich spiele nicht. Oder zumindest nicht viel. Ich gehöre zu den Menschen, die ein enormes Suchtpotenzial entfalten können und die sich zudem sehr stark in die Spiele hineinfühlen.

Angefangen habe ich, wie so viele Kinder der 90er, mit Pokémon auf dem Game Boy Color. Das war, soweit ich mich erinnern kann, eines der wenigen Spiele, das ich wirklich fast schon exzessiv spielte, auch nachts unter der Bettdecke, wenn ich eigentlich schlafen sollte.

Ich bin ein Mensch mit sehr ausgeprägter Fantasie und einem natürlichen Spieltrieb. Als Kind spielte ich die verrücktesten Geschichten in meinem Kopf, alleine und mit Freunden. Was heißt als Kind? Eigentlich mache ich das bis heute. Ich spiele sehr fantasievoll, immer in Geschichten, fast ausschließlich im Kopf und fast nie am Computer oder der Spielekonsole und wenn, dann nur sehr ausgewählt.

Das hat seine Gründe. Das Thema „Spielen“ oder zu englisch „Gaming“ ist ein kritisches Thema für mich.

Irgendwann hat es angefangen, dass ich meine Lust am Spielen verlor. An Gesellschaftsspielen, wie Brettspielen zum Beispiel. Oder Würfelspiele. Dieses verdammte Würfel(un)glück! Kartenspiele, wobei du Karten zählen musst, obwohl du das offiziell nicht darfst und dein Pokerface wahren musst, Schach mit seinen unzähligen Denkmöglichkeiten. Wenn ich mit anderen spiele, beobachte ich sie und oftmals nervt mich die Dynamik, die sich entwickelt: Wenn sich alle Mitspielenden gegenseitig anstacheln und trietzen, wenn versucht wird zu schummeln, wenn Menschen weder verlieren noch gewinnen können. Ich weiß, es ist gerade das, was viele Menschen am Spielen lieben. Ich halt eher nicht so.

Lange habe ich überlegt, warum ich Probleme mit dem Spielen habe, während ich mein Leben lang von Spielen und Zocker!nnen umgeben bin und sämtliche Spielentwicklungen miterlebt habe. Irgendwann stellte ich fest: Es ist dieses Leistungsding, dieses Gewinnen und Verlieren, der Ehrgeiz, das Zocken, das Risiko. Auch diese Monothematik… ich meine, lass mal das Thema Gaming auf einer WG-Party fallen, das Gespräch endet nie! ALLE haben dazu etwas zu sagen und es gibt immer die selben Meinungen: Es gibt Spiele, die irgendwann mal alle gespielt haben, oder zumindest davon gehört haben. Es werden die unterschiedlichen Spielgenre, die unterschiedlichen Strategien, die unterschiedlichen Spieltypen erläutert, es wird über Spielentwicklung, Steuerung und Grafik gefachsimpelt. Im Großen und Ganzen spielt eigentlich jede*r gerne.

Warum spielen so viele Menschen so gerne? Warum ich nicht? Was bin ich für ein Spieltyp?

Bei Gesellschaftsspielen ist das recht einfach zu sagen: Während ich eher lustlos daran teilnehme und sich alle anderen anstacheln, ist meine Strategie meistens, sich still und heimlich vorbeizusneaken und leise zu gewinnen. Hehe.

Wie gesagt, ich mag dieses Gewinnen/Verlieren und gegeneinander spielen nicht so. Ich mag Spiele, die gemeinsam gelöst werden müssen, wie Escape Games zum Beispiel. Du befindest dich mit deinen Freunden im Spiel und löst Rätsel. Rätsel sind allgemein eine ziemlich gute und nervenaufreibende Sache. Oder Pen and Paper, wenn du mit deiner Gruppe die Geschichte des Spielleiters lösen musst. Großartig! Allgemein Storygames! Großartige, interessante und nachvollziehbare Geschichten, die dich fesseln, die von deinen Dialogen und Entscheidungen abhängen, eingebettet in atemberaubende Orte, unterlegt mit hinreißender Musik.

Und das macht es mir wieder schwer. Digitale Spiele sind mittlerweile so fantastisch geworden, die Grafik, der Sound, das Spielerlebnis… ich kann diese Spiele nicht spielen! Ich würde nicht mehr aufhören! Ich würde mich in diese Welten einsaugen lassen und diese interaktiven Filme bis zum Ende durchziehen. Und dann wieder und nochmal. Und dann das nächste, oder den zweiten Teil.

Reicht schon, wenn ich so viele Serien durchsuchte, da kann ich nicht auch noch zocken! 😀

Das Suchtpotenzial ist bei den heutigen Spielen so enorm für mich, dass ich mich bewusst von den Spielen fernhalte und nur ganz ausgewählt mich dem Spieltrieb hingebe. Außerdem bin ich schlichtweg auch überfordert mit diesen grandiosen Spielen heutzutage: Es passiert ja alles Großartige gleichzeitig, also wird auch alles gleichzeitig wahrgenommen! Wie soll ich mich da auf einen Kampf konzentrieren können?

Allgemein kämpfen… eher nicht so mein Ding. Es fällt mir schwer, meine eigenen Wertvorstellungen im Spiel auszuschalten. Außer ich begebe mich von Anfang an bewusst in einen Anti-Charakter, dessen Weltanschauung und Verhalten ich ausprobieren möchte.

Digitales Spielen strengt mich an, in Körper, Geist und Seele. Ich bin noch nie einen Marathon gelaufen, aber ich denke, ich fühle mich genau so, wie wenn ich ein spannendes Spiel durchgespielt habe.

Fazit: Warum habe ich das alles aufgeschrieben?

Spielen ist ein gesellschaftliches Thema, das auch seinen Platz in der Medienpädagogik hat. Wie so oft im pädagogischen Kontext, werden vor allem die negativen Auswirkungen angesprochen. Eltern und pädagogische Fachkräfte sind viel mit zockenden Kindern und Jugendlichen konfrontiert und versuchen einen Zugang zu finden, der, abseits von Verboten, zu einem bewussten Gamingkonsum führen kann. Eine Selbstreflexion zu starten ist eine Annäherung an das Thema „Gaming“. Sie wirft Fragen zur Spielentwicklung auf, zu Spieltypen, Strategie, zu Geschmack, zu Wahrnehmung und schlägt die Brücke zu verbundenen Themen wie Leistungsgesellschaft, Wertvorstellungen, Wirkungsforschung, Sucht, usw.

Selbstreflexion hilft dabei, uns in Spielende hineinzuversetzen. Denn eigentlich spielen wir alle gerne, der Mensch hat einen natürlichen Spieltrieb. Kenne ich meine eigene Haltung zu dem Thema, dann kenne ich auch meine eigenen Vorurteile, kann ich sie leichter durchbrechen und offener mit anderen darüber reden.

Übrigens kann diese Methode der Reflexion auch mit Kindern und Jugendlichen ausprobiert werden, um das Thema zu behandeln. Was pädagogische Fachkräfte noch wissen sollten und wie das Thema pädagogisch angegangen werden kann, erfahrt ihr im Grundlagenartikel in der Kategorie Meko Machen, sowie im MekoTalk mit Gamerin Zeyni.

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